Dialog David Wagner


David Wagner
Der vergessliche Riese

Eine thematische Buchempfehlung von Maren Jungclaus
Literaturbüro NRW

Über zwei Jahrzehnte hinweg haben sich Vater und Sohn kaum gesehen, jeder war mit seinem eigenen Leben beschäftigt. Der Vater mit seiner zweiten Frau, seiner Firma und vielen Geschäftsreisen, der Sohn mit seinem neuen Leben in Berlin als Schriftsteller, Ehemann und Vater einer Tochter. Bis der Vater an Demenz erkrankt und David Wagner regelmäßig von Berlin nach Bonn fährt, um den Vater zu besuchen. Über drei Jahre erzählt das Buch von der fortschreitenden Krankheit und der Veränderung des Vaters. Von dem allmählichen Unvermögen, den Alltag zu meistern und auch von der Entfremdung zwischen Vater und Sohn, die irgendwo aber auch eine Annäherung ist. Jeder Besuch birgt neue Überraschungen und Irritationen, jedes Mal muss der Sohn sich auf eine weitere Veränderung des Vaterseinstellen, was er mit einer bewundernswerten Souveränität tut.

Polnische Betreuerinnen kommen und gehen, bis Wagner und seine Geschwister beschließen, den Vater in einer Altersresidenz am Rhein unterzubringen. Das Einleben fällt diesem, der sich mittlerweile in einer ganz eigenen Welt eingerichtet hat, erstaunlich leicht, wie überhaupt der ganze Prozess des Vergessens und Verlierens auch eine gewisse Leichtigkeit zuhaben scheint. Was bei allen Verlusten bleibt, ist seine Attitude als Lebemann, Gigolo und Verführer, die er seinen polnischen Pflegerinnen gegenüber genauso an den Tag legt wie den Mitbewohnerinnen in der Seniorenresidenz. Bis zum Ende des Buches behält er seine Würde und auch dem fortschreitenden Vergessen weiß er seine Strategien entgegenzusetzen.

So nennt er seinen Sohn, den er nicht mehr einordnen und dessen Namen er nicht mehr erinnern kann, irgendwann nur noch Freund: »Woher kommst du, Freund?«, sagt er, »Was machst du hier, Freund?« oder »Du hast dich auch nie sehen lassen, Freund«. Und während die Welt zum Rätsel wird und das Leben zu einer einzigen Verunsicherung, bleibt dem Vater doch immer die Einzigartigkeit seines Charakters, mit der er sich aus jeder Situation herauswindet. Wie er nicht als bemitleidenswertes Opfer seiner Krankheit wirkt, wird diese nicht als Schreckgespenst dargestellt; vielmehr ist das Buch eine Studie über das Vergehen von Zeit, eine Reflexion über das Erinnern und Vergessen, über das Verhältnis von Vater und Sohn, das durch das Alter eine Umkehrung erfährt, wobei der Vater doch Vater und Sohn Sohn bleibt.

So handelt es sich bei dem Roman letztlich nicht allein um die Beschreibung einer fortschreitenden Demenz, sondern ganz allgemein über das Altern im Allgemeinen.




David Wagner
Der vergessliche Riese

Rowohlt Verlag. 272 Seiten.
ISBN 978-3-499-26862-5